Die gesunde Portion Craziness.
Die ersten Sonnenstrahlen im Gesicht, einen Cappuccino in der Hand und auf das bekannte Stadtbild blickend denkt sie sich: Ist doch alles ganz in Ordnung. Schön sogar. Es wird Frühling und sie sitzt endlich mit kurzem Shirt draußen. Toll. Schön. Sie versucht das Jucken unter der Haut zu ignorieren, das sie ohnehin nicht kratzen kann. Diese leichte Rückenverspannung, die wohl einfach zum Alter dazu gehört. Man ist ja schließlich nicht mehr Mitte Zwanzig. Da ist das eben so. Oder? Es zwickt irgendwie. Mal hier, mal da. Es ist alles schön so, wirklich, und alles Einatmen, Ausatmen und in Stille sitzen überspielt leider nicht den Fakt, dass es sich merkwürdig anfühlt. Der Alltag passt nicht mehr ganz, er ist zu eng unter den Armen. Es schnürt zu im Brustbereich. Auf einmal realisiert sie, dass sie seit Wochen und Monaten schon flach atmet. Reicht ja für das Maß an Lebendigkeit, das sie sich erlaubt.
Während die Stadt weiter wuselt und die Sonne weiter scheint, wird ihr klar: Sie ist herausgewachsen aus sich selbst. Aus einer Version, die mal wirklich gut gepasst hat. Wie angegossen in einer Phase, in der sie sich liebend gerne limitiert hat. Als sie gerne etwas kleiner und handlicher sein wollte, um an möglichst vielen Stellen zu passen. Wie so ein praktisches, quadratisches Möbelstück oder diese beigen Influencer-Teppiche, mit denen man "einfach nichts falsch machen" kann. Es wühlt in ihr, es steigen Tränen in die Augen.
Sie ist nicht beige, sie ist bunt. Sie ist auch nicht praktisch, sie vibriert.
Sie ist groß und rund und voller Leben. Eigentlich. Aber sie trägt noch die alten Ideen, die alten Klamotten. Obwohl sie so eng geworden sind, fällt es ihr irrsinnig schwer, sie wegzugeben. Sie sind so wohlig und bekannt. Was für ein Aufwand das aber auch wäre, etwas Neues zu suchen. Wo fängt man da an? Diese Gedanken spinnen weiter, bis sie fast wieder so überzeugend sind wie all die Male zuvor. All die Male, wo sie sich selbst davon überzeugt hat, dass es eigentlich ganz schön so ist. Toll. Passt schon so.
Aber dieser Moment ist nicht der Gleiche. Dieser Moment hat einen Funken inne, der das gedimmte Licht ein wenig heller werden lässt und sichtbar macht, was sonst im Dunkeln blieb: Zeit für etwas Neues...
Die Ideen und Impulse, die in diesen Augenblicken kommen, sind blitzartig und sanft zugleich. So klar und ehrlich, dass es kaum möglich ist, ihnen nicht zu folgen. Dann tun wir Dinge, die für den Verstand nur bedingt Sinn ergeben, aber das Herz ruft: Au ja! Dann zieht sie zum Beispiel um oder entscheidet sich zu kündigen. Oder einfach Beides. Ohne Sicherheit, ohne allgemein anerkannten Grund, aber mit dem Ziel, Platz für Wunder zu schaffen. Diese gesunde Portion Craziness bricht auf, was verkrustet und unbeweglich ist. Sie schließt Türen zu Räumen, in denen wir ohnehin keine Lust mehr haben zu sein.
Crazy Wisdom ist eine östliche Philosophie, die zuerst vom Autor Chogyam Trungpa Rinpoche benannt wurde, aber seitdem sehr oft aufgegriffen und seit langer Zeit gelebt wird. Sie beschreibt einen kontroversen Weg zur Erleuchtung, den Gedanken, dass unsere innere Weisheit direkt verbunden ist mit einem höheren Selbst. Einer Führung, die aus dem Herzen heraus uns immer genau dahin führt, wo wir gerade sein sollen. Sie hält sich an keine Normen und Regeln und wirkt somit von außen eben verrückt. Der Mensch, der im Crazy Wisdom handelt, spürt meist Freude und Frieden. Die Handlungen im Namen der inneren Weisheit sind oft für das Umfeld nicht verständlich, denn wir sind in unseren Kulturkreisen darauf trainiert, auf Fakten und Pläne zu vertrauen. Der Verstand hat bei uns das Zepter in der Hand.
Entgegen der allgemeinen Annahme, dass intuitive Entscheidungen immer im Chaos enden, ist meist das Gegenteil der Fall. Denn sie kommen aus uns selbst, dem Bauchgefühl oder dem Herzen. Der Verstand darf dann seinen natürlichen Part übernehmen und für die Umsetzung sorgen. Er erinnert, behält und wiederholt. Er erschafft nicht, er ist an sich wenig visionär.
Inmitten von Unruhe und Zweifel erkennen wir, dass wir über uns hinauswachsen können. Crazy Wisdom lehrt uns, auf unsere Intuition zu hören und dem Ruf des Herzens zu folgen, auch wenn es bedeutet, den Verstand herauszufordern. Wir müssen den Verstand respektieren, dürfen aber auch mutig genug sein, ihm zu widerstehen, wenn er uns von unserem wahren Weg abbringen will. Nur durch kraftvolle Entscheidungen im Einklang mit unserer inneren Weisheit können wir unser volles Potenzial entfalten. Die gesunde Portion Craziness in uns ist der Schlüssel zu einem erfüllten und authentischen Leben.
Es ist Zeit, diese Seite von uns zu umarmen und den Weg des Herzens zu gehen.
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